JL 23
31. Dezember 2022
März 2023
28. Februar 2023

Gedanken zur Jahreslosung 2023

Du bist ein Gott, der mich sieht.
1. Mose. 16, 13

Der gekürzte Bibelvers der Jahreslosung 2023 bezieht sich auf eine dramatische
Geschichte. Es geht um das Ehepaar Abram und Sarai. Sarai ist unfruchtbar und bittet
daher ihren Mann, ein Kind mit der Magd Hagar zu zeugen. Doch die Schwangerschaft
sorgt für einen Konflikt zwischen den Frauen. Sie demütigen und verachten sich.
Für Hagar scheint die Lage ausweglos zu sein, sie flieht. Heimatlos und einsam läuft sie
zu einer Wasserquelle in der Wüste. Dort begegnet ihr ein Engel, der ihr rät, zu Abram
und Sarai zurückzukehren. Der Engel prophezeit, dass Hagar so viele Nachkommen
bekommen wird, dass „sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können.“
Hagar betet an der Wasserquelle zu Gott und stellt fest: „Du bist ein Gott, der mich
sieht“. Diese Aussage ist ungewöhnlich, denn es geht hier um die Selbstwahrnehmung.
Hagar hat das Gefühl, so gesehen zu werden, wie sie ist, von Gott in ihrem Dasein
erkannt zu werden.
Die Jahreslosung 2023 zitiert erstmals ein Vers mit einem Text, der aus dem Mund einer
Frau kommt. Auch das ist neu an dieser Losung. Die Stellung der Frau in der
Gesellschaft ist also ein weiterer Punkt, der in diesem Zusammenhang von Bedeutung
ist. Hagar ist „die erste Frau der Bibel, die einer rettenden Gottesbegegnung gewürdigt
wird und die einzige Frau, die von Gott selbst ‚Väterverheißungen‘ erfährt“, erläutert der
Theologe Thomas Naumann. Die Dienerin Hagar stehe damit auf einer Ebene mit dem
großen Stammvater Abraham.
Der dritte Aspekt, der interessant ist an der Jahreslosung 2023, ist der Bezug zum
interreligiösen Dialog. Hagars Name bedeutet „die Fremde“. „Die Fremdheit ist ein
Grundbaustein in Israels Existenz“, erläutert der katholische Diplomtheologe Wolfgang
Baur. Die Ur-Eltern Israels kämen immer als Fremde ins Land – in das Land Kanaan oder
auch nach Ägypten.
Die Jahreslosung 2023 thematisiert schließlich ein Thema, mit dem wir täglich
konfrontiert sind: Flucht und Vertreibung. An der Geschichte von Hagar an der Quelle
werde „das Elend von Flucht und Vertreibung und die anschließende göttliche Errettung
in der Wüste einprägsam und in der Bibel einzigartig an einem Einzelschicksal gezeigt“,
schreibt der evangelische Theologe Thomas Naumann.
Die Wüstenerfahrungen von Hagar, die Gefühle von Leere, Erschöpfung, Entmutigung,
Enttäuschung sind zentrale Erfahrungen menschlichen Lebens. Hagar erfährt Zuspruch,
Anerkennung und Unterstützung. Das richtet sie auf und gibt ihr Kraft, nicht aus ihrem
bisherigen Leben auszubrechen, sondern darin weiterzuleben und dies als reich und
erfüllt wahrzunehmen.
(aus dem „Sonntagsblat“t in Auszügen)